Citylife, 2007
90 x 120 cm, c-print on dibond

FÜR DAS ANDERE FEINFÜHLIG MACHEN UND HALTEN
SIEGFRIED ZIELINSKI

(Exzerpt aus dem Text veröffentlicht im: Thomas Nölle. Tiempos dorados/Golden Times. Badajoz: MEIAC Museo Extremeño e Iberoamericano de Arte Contemporáneo, 2008.)

[...] Die Verfremdungen, mit denen Thomas Nölle arbeitet, sind extrem. Sie organisieren Chock-Erfahrungen, ganz so, wie es Benjamin in seinem berühmten Kunstwerkaufsatz den taktilen dadaistischen Bildtatktiken zugeschrieben hat, die wie Geschosse auf den Betrachter zufliegen. Farbenfrohe Papageien, für das europäische Auge außerhalb des Käfigs immer noch exotische Vögel, sitzen verstört auf rostigen Eisenstäben und der Sägebank einer verlassenen Baugrube. Ein nur mit Lendenschurz bekleideter, traditionell geschmückter und mit langem Blasrohr bewaffneter Indianer steht stolz und entschlossen in der sterilen Glas- und Stahlarchitektur eines Flughafens, ganz so, als würde er die anwesenden Touristen, Geschäftsleute und die ebenso artifiziell erscheinenden Palmen bewachen; ein anderer scheint in ähnlicher Positur Sorge für die völlig verdreckten Müllcontainer im verrotteten Hinterhof eines Geschäfts zu tragen. Immer wieder die nahezu nackten Ureinwohner des Amazonas, die sich der Welt recht schutzlos anbieten, im scharfen Kontrast zur gebauten Kultur des rechten Winkels, des Konsums, der harten Materialien.

Für den post-kolonialen Blick mögen die Menschen fremd in diesen Umgebungen erscheinen. Aber auf magische Weise kehrt Thomas Nölle das Verhältnis von Vertrautheit und Andersheit um. Nicht die in die klägliche Inszenierung des Post-Kapitalismus eingefügten Indianer sind die Aliens in seinen Bildern, sondern die Umgebung, der Kontext, der nachlässig und menschenverachtend um sie herum gebaut wurde. Die uns eigene Kultur erscheint gegenüber den Ureinwohnern des Amazonas abstoßend, obszön, fremdartig.

Seit Menschengedenken versorgt der Süden die abhängigen heterotrophen Wesen in der Nordhälfte unseres Planeten mit vitaminreichen Früchten und Gemüsen, mit Öl und anderen Energien, damit sie überleben können. Er verschafft ihnen auch Zugang zu künstlichen Paradiesen wie Kaffee, Zucker, Guarana, Kokain, Opium, damit sich die Nordlinge jederzeit warm und wohl fühlen können. Er bot und bietet ihnen Zuflucht, wenn sie in der Enge und in der Kälte in Bedrängnis geraten sind und die Barbareien des Nordens nicht mehr ausgehalten haben. Und der Süden stellt sich unermüdlich zur Befriedigung der Sehnsüchte nach Sonne, Meer, dem Ursprünglichen und Exotischen zur Verfügung, auch, wenn dies heute wesentlich nur noch als Projektion und gestaltetes Produkt existieren mag. Der Norden wurde vom Süden und durch die Kraft des Südens hindurch entwickelt, und nicht umgekehrt. England, Deutschland, Frankreich, die Niederlande, auch Spanien und vor allem die USA wurden zu Entwicklungsländern der Tiefenzeit-Kulturen Ägyptens, Indiens, Mesopotamiens, der byzantinischen, griechischen, römischen und lateinamerikanischen Hochkulturen. Es ist seit langem überfällig, dass wir dieser Geschichte gerecht werden und die Verhältnisse wieder umzukehren beginnen. Thomas Nölles Werke können in diesem Sinn auch als Gaben verstanden werden, als Rückgaben im Rahmen einer Ökonomie, die nur eine einzige Währung als gültige anerkennt: die kompromisslose Achtung des Anderen in enger Verbindung mit dem ästhetischen Mehrwert. Kunst, die daraus entwickelt wird, ist die reinste Verschwendung. Auf die kommt es aber zunehmend an, je mehr alles dem Produktivitätswahn geopfert wird.

Siegfried Zielinski
Berlin, August 2008

© MEIAC, 2008.
 

Tierra Madre, 2007
Tierra Madre, 2007
89 x 120 cm, c-print on dibond
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83 x 120 cm, c-print on dibond
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92 x 120 cm, c-print on dibond
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120 x 90 cm, c-print on dibond
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90 x 120 cm, c-print on dibond